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„Und du glaubst, ich bin stark, und ich kenn
den Weg,
du bildest dir ein, ich weiß, wie alles geht,
du denkst, ich hab alles im Griff
und kontrollier, was geschieht,
aber ich steh nur hier oben und sing mein Lied"
Das ist der Refrain von einem meiner Lieblingslieder „Stark“ von „Ich + ich“ und steht für mich sinnbildlich für viele Menschen, die von anderen als stark angesehen und auch so behandelt werden. Die, die man stärker belasten kann, und die – egal, was passiert – immer wieder aufstehen.
Denen man sagt, wie beeindruckend man es findet, wie erfolgreich sie sind und sie verschiedenste Dinge managen, dabei aber übersieht, dass auch diese Menschen mit Selbstzweifeln kämpfen, mit der Sorge, nicht gut genug zu sein, oder nicht das zu sein, was andre von ihnen erwarten.
Vor einiger Zeit habe ich es als Aufgabe in einem Workshop bekommen, zehn nahestehende Personen zu fragen, mit welchen drei Wörtern sie mich beschreiben würden. Unter diesen 30 Attributen war acht Mal „stark“ zu finden. Ich hätte kotzen können.
Schon früher ist es mir auf den Geist gegangen, als stark bezeichnet zu werden, weil es für mich häufig bedeutet hat, mehr zugemutet zu bekommen, weniger oft gefragt zu werden, ob ich Hilfe benötige. Ein lapidares „du machst das schon“ als Antwort zu erhalten auf ein Problem, mit dem ich mich herumschlug.
In meinen früheren Zeiten hätte ich es nie zugelassen, mir Schwäche zuzugestehen, und schon gar nicht, anderen diese Seite zu zeigen. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem meine halbe Welt zusammengebroch ist, und am Abend stand ich bei einer beruflichen Veranstaltung und niemand hätte auch nur im geringsten erahnt, wie es in meinem Inneren ausgesehen hat.
Nichts, worauf ich heute stolz bin, weil es eine Verleugnung meiner Gefühle war. Und auch eine Unehrlichkeit den Menschen gegenüber, die mir nahe standen. Wer kann schon erahnen, was sich hinter einem strahlenden Lächeln verbirgt, wenn die Person selbst es nicht zum Ausdruck bringt? Von anderen zu erwarten, sie sollten erraten, was hinter der Fassade, dem selbst auferlegten Panzer, tatsächlich passiert, ist schlicht Unfug.
Die „starke Frau“ wird in allen Magazinen und Ratgebern gefeiert, aber ist das wirklich ein Etikett, das wir in jeder Lebenslage und zu jedem Zeitpunkt tragen wollen? Sind wir weniger wert, wenn wir schwach sind, und Unterstützung benötigen?
Nein. Das gesamte Leben wird erst durch die Polarität lebendig. Stark und schwach. Laut und leise. Emotional und rational. Vertrauensvoll und Wachsam. Wir wachsen, wenn wir erkennen, dass wir das alles sein dürfen, und nicht nur eine Seite der Medaille bedienen.
Die Entstehung der vermeintlich „immer Starken“ liegt wie so oft in der Kindheit und Jugend. Wer oftmals erlebt hat, dass er auf dem kürzeren Ast sitzt, wenn er Schwäche zeigt, wird dies in der Zukunft tunlichst vermeiden. Doch wenn wir Glück haben, treffen wir Menschen, denen wir das wahre Ich zeigen dürfen. Bei denen wir schwach sein dürfen und die trotzdem Achtung vor uns haben. Die wissen, dass wir zwar zusammenbrechen, aber auch wieder aufstehen. Und die uns dabei die Hand reichen, die Tränen trocknen und uns wieder auf unseren Weg schicken.
Und wenn wir lernen, uns selbst die schwachen Momente und die Hilflosigkeit zuzugestehen, dann haben wir wahrlich gewonnen. Dann dürfen wir wir sein.